Kindesmissbrauch stoppen
2019 hat die Polizei in Hessen 1.471 Fälle von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche erfasst. Die Dunkelziffer in diesem Deliktsfeld ist hoch – die Taten ereignen sich häufig innerhalb der Familie oder im sozialen Nah-Raum eines Kindes, nur ein Bruchteil wird angezeigt. Im Kampf gegen sexuellen Missbrauch sind alle gefragt. Doch was ist sexueller Missbrauch eigentlich? Und wie lässt er sich erkennen?
Ein Überblick:
Unter sexuellem Missbrauch oder sexueller Gewalt an Kindern ist jede sexuelle Handlung zu verstehen, die an oder vor Mädchen und Jungen unter 14 Jahren vorgenommen wird. Sexuelle Handlungen an und vor Kindern sind immer strafbar – auch wenn sich das Kind zuvor einverstanden gezeigt hat. Hintergrund: Der Gesetzgeber geht davon aus, dass Kinder unter 14 Jahren aufgrund ihrer körperlichen, seelischen, geistigen oder sprachlichen Unterlegenheit sexuellen Handlungen nicht zustimmen können. Darum sind sie auch nie Schuld am Missbrauch.
Sexuelle Gewalt hat viele Gesichter: Die Bandbreite reicht von verbalen Belästigungen und scheinbar unabsichtlichen Berührungen über Masturbation vor einem Kind bis hin zu körperlichen Übergriffen und Vergewaltigung. Auch eine an das Kind gerichtete Aufforderung, selbst sexuelle Handlungen an sich oder anderen durchzuführen, ist eine Form des sexuellen Missbrauchs. Gleiches gilt für das Fotografieren oder Filmen von Missbrauchshandlungen sowie das Weiterverbreiten der Fotos und Videos.
Sexuelle Gewalt gegen Kinder muss nicht immer von Erwachsenen ausgehen. Auch Jugendliche verüben sexuelle Gewalt, ebenso wie Kindergarten- und Grundschulkinder übergriffiges Verhalten zeigen können. Nicht nur Kinder und Jugendliche, die Opfer geworden sind, haben ein Recht auf Hilfe, sondern auch sexuell übergriffige Kinder und Jugendliche – um ihr Handeln zu beenden und ihr Verhalten zu hinterfragen.
Sexuelle Gewalt findet laut Information des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs des Bundesministeriums für Familie in etwa 80 bis 90 Prozent der Fälle durch Männer und männliche Jugendliche statt, zu etwa 10 bis 20 Prozent durch Frauen und weibliche Jugendliche. Ein einheitliches Profil auf Täterseite im Hinblick auf Alter, Herkunft und Bildungshintergrund gibt es dabei nicht. Aber: In den meisten Fällen sind sich Täter und Opfer bekannt, stammen aus derselben Familie oder kennen sich aus dem näheren Umfeld wie Schule, Nachbarschaft oder Verein. Nur etwa ein Drittel der Täter sind ihren Opfern völlig fremd.
Eine zentrale Rolle kommt Täterinnen und Tätern zu, die pädosexuell orientiert sind – also ausschließlich an sexuellen Kontakten mit Kindern interessiert. Einem nicht unwesentlichen Teil der Täter geht es beim sexuellen Missbrauch von Kindern jedoch um das Ausüben von Macht.
Mädchen und Jungen aus allen sozialen Schichten werden Opfer von sexuellem Missbrauch. Untersuchungen haben gezeigt: Jedes vierte bis fünfte Mädchen und jeder neunte bis zwölfte Junge macht bis zum 18. Lebensjahr Erfahrungen mit sexueller Gewalt. Die Dunkelziffer in dem Deliktsfeld ist jedoch sehr hoch. Nur ein Bruchteil der Taten wird angezeigt. Für 2019 erfasst die Statistik der Polizei in Hessen 1.471 Fälle von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche, darunter 91 Fälle von sexuellen Handlungen vor Kindern und 432 Fälle von Verbreitung sogenannter Kinderpornografie.
Ja. Sexuelle Handlungen an oder vor Kindern unter 14 Jahren sind gemäß § 176 Strafgesetzbuch strafbar. Aber auch Handlungen, die ein Kind an einem Täter beziehungsweise an einer Täterin oder einem Dritten vornehmen muss, werden von Paragraf 176 umfasst. Der Versuch des Sexualkontakts mit einem Kind steht ebenso unter Strafe wie Handlungen, die keinen unmittelbaren Körperkontakt voraussetzen, etwa wenn ein Kind via Video-Stream zu sexuellen Handlungen an sich selbst aufgefordert wird.
Auch der sexuelle Missbrauch von Jugendlichen (14 bis 18 Jahre) ist gemäß § 182 des Strafgesetzbuchs strafbar, wenn ein Täter oder eine Täterin eine Zwangslage des Opfers ausnutzt oder sexuelle Handlungen gegen Bezahlung am Opfer vornimmt oder von diesem an sich vornehmen lässt. Zudem macht sich jeder Mann und jede Frau im Alter von über 21 Jahren strafbar, wenn er oder sie sexuelle Handlungen an einem Jugendlichen unter 16 Jahren vornimmt, wenn das Opfer ihm oder ihr gegenüber nicht zur sexuellen Selbstbestimmung fähig ist.
Unterleibsverletzungen, Blutergüsse, Bisswunden im Genitalbereich sowie Geschlechtskrankheiten können Anzeichen sein. Meist fehlen jedoch klare körperliche Symptome. Auch das Verhalten von Jungen und Mädchen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind, entspricht keinem vorhersehbaren Muster. Während man manchen Kindern nichts anmerkt, verändern sich andere und entwickeln beispielsweise Schlafstörungen oder Ängste, ziehen sich zurück oder werden aggressiv. Ein Kind, das sich plötzlich verändert, braucht die Aufmerksamkeit seiner Eltern oder anderer Bezugspersonen. Treten Verhaltensauffälligkeiten auf, gilt es, diese mit fachlicher Unterstützung abzuklären.
Missbrauchte Kinder reagieren unterschiedlich auf das Erlebte, entwickeln entsprechend ihrer Persönlichkeit und der Missbrauchssituation individuelle psychische und psychosomatische Symptome, die von Schlaf- und Konzentrationsschwierigkeiten über Gewichtszunahme oder -verlust sowie Bindungsprobleme oder Suchtprobleme bis hin zu Selbstverletzungen reichen können. Die Symptome müssen nicht sofort nach dem Übergriff auftreten, sondern können dies auch Jahre später – etwa wenn das Kind erstmals selbst eine Paarbeziehung eingeht.
Bei den wenigsten Tätern handelt es sich um Gelegenheitstäter. Vielmehr sind die Übergriffe meist genau und langfristig geplant. Dafür baut ein Täter bzw. eine Täterin ein Vertrauensverhältnis zu dem Opfer auf, schenkt ihm besondere Aufmerksamkeit, macht ihm Geschenke und schafft Situationen, die einen Missbrauch möglich machen. Auf verschiedenen Wegen sorgen Täter dafür, dass der Missbrauch von den Kindern geheim gehalten wird – so geben sie den Kindern beispielsweise eine Mitschuld („Du hast mitgemacht.“), bauen massiven Druck auf („Wenn du was verrätst, ist deine Mama sehr traurig.“) oder sprechen Drohungen aus („Wenn du etwas sagt, tue ich dir weh.“).
Sollte ein Kind sich Ihnen anvertrauen, glauben Sie ihm und nehmen Sie seine Schilderungen ernst. Bleiben Sie ruhig, Panik könnte dem Kind Angst machen. Hören Sie dem Kind zu, lassen Sie es so viel erzählen, wie es erzählen möchte, üben Sie keinen Druck aus und versuchen Sie, das Kind nicht zu beeinflussen – etwa durch Suggestivfragen. Versprechen Sie dem Kind nicht, dass Sie alles für sich behalten werden, sonst haben Sie keine Möglichkeit weitere Schritte einzuleiten, ohne wortbrüchig zu werden.
Sollten Sie einen Verdacht hegen, jedoch keine konkreten Hinweise haben, wenden Sie sich niemals an den möglichen Täter oder die mögliche Täterin. Suchen Sie sich stattdessen eine Vertrauensperson, mit der sie sich austauschen können. Verbreiten Sie in Ihrem Umfeld keine Gerüchte – Sie könnten sich wegen übler Nachrede strafbar machen. Sinnvoll ist es, sich professionelle Hilfe zu suchen. Diese bekommen Sie beispielsweise bei Beratungsstellen wie Wildwasser (Fachberatungsstelle gegen sexuelle Gewalt), dem Frauennotruf, Kinderschutz-Zentren und Jugendämtern. Die dortigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter helfen Ihnen bei der Entscheidung, ob eine Anzeige bei der Polizei sinnvoll ist.
Wird eine Anzeige erstattet, sind Polizei und Staatsanwaltschaft gesetzlich verpflichtet, zu ermitteln. Die Anzeige kann nicht zurückgezogen, die Ermittlungen nicht gestoppt werden. Obgleich eine Zeugenaussage für das Opfer belastend sein kann: Die Befragung des betroffenen Kindes ist unumgänglich. Die Polizei verfügt in der Regel über speziell beschulte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, um eine kindgerechte Befragung zu gewährleisten. Es ist sinnvoll, die Befragung mittels Video aufzuzeichnen – um etwaige mehrfache und damit belastende Anhörungen für das Kind zu vermeiden.
Die Polizei unterstützt – auch in Zusammenarbeit mit einer Fachstelle – dabei, das Kind vor weiterem Missbrauch zu schützen. Die Ansprache des oder der Tatverdächtigen sollte unbedingt der Polizei überlassen werden – auch, weil es auf diesem Weg keine Vorwarnung für den Täter oder die Täterin gibt und damit keine Zeit bleibt, um mögliche Spuren und Beweise zu vernichten. Die Polizei prüft, welche weiteren Schritte, beispielsweise eine ärztliche Untersuchung des Opfers oder Vernehmung von weiteren Zeugen, notwendig sind und leitet diese ein.
Die Polizei informiert im Rahmen der Befragung über Opferrechte, kann Kontakt zu örtlichen Hilfeorganisationen vermitteln und erste Schritte zum weiteren prozessualen Ablauf erklären. Sind die Ermittlungen abgeschlossen, leitet die Polizei die Ergebnisse an die Staatsanwaltschaft weiter, die dann entscheidet, ob Anklage erhoben wird.
Es gibt keinen einhundertprozentigen Schutz, Opfer von sexueller Gewalt zu werden. Dennoch können Erwachsene Kinder entsprechend sensibilisieren und wehrhafter machen. Etwa indem sie Kindern erklären, dass sie beispielsweise keine ungewollten Küsschen oder Umarmungen von Verwandten oder Bekannten entgegennehmen müssen. Kinder haben das Recht, „nein“ zu sagen und sollten keine Angst davor haben, das auch zu tun. Eltern können das mit ihrem Nachwuchs üben: Fordern Sie Ihr Kind auf, Ihnen mitzuteilen, wenn es etwas nicht mag – auch Ihnen selbst gegenüber.
Kinder sollten zudem wissen, dass es kein Petzen ist, wenn sie aufgezwungene Geheimnisse, die sich für sie schlecht anfühlen, für sich behalten. Wichtig ist es zudem, das Thema Missbrauch nicht zu tabuisieren, sondern innerhalb der Familie darüber zu sprechen. Sollte sich Ihnen ein Kind anvertrauen: Nehmen Sie das Kind ernst und kümmern sie sich um es. Kinder brauchen die Hilfe von Erwachsenen, um sexuellen Missbrauch zu beenden.
Ihre örtliche Polizeidienststelle kann Ihnen Fachberatungsangebote in Ihrer Nähe nennen. Hilfe gibt es in aller Regel auch bei Jugendämtern, Gesundheitsdiensten, Psychologischen Beratungsstellen, Kinderkliniken und Sozialdiensten. Weiterführende Informationen rund um das Thema „Sexuelle Gewalt“ erhalten Sie im Internet unter anderem unter www.polizei-beratung.de und
www.hilfeportal-missbrauch.de, telefonisch bekommen Kinder kostenlos und anonym Hilfe am Kinder- und Jugendtelefon (Telefon 0800/1110333).